澄澈 发表于 2008-7-26 09:58

Leseprobe: Geh, wohin dein Herz dich trägt

Geh, wohin dein Herz dich trägt
Sasanna Tamaro

澄澈 发表于 2008-7-26 09:59

Du bist vor zwei Monaten abgereist, und seit zwei Monaten habe ich, abgesehen von einer Postkarte, auf der du mir mitteilst, daß du noch lebst, keine Nachricht von dir. Heute morgen bin ich im Garten lange vor deiner Rose stehengeblieben. Obgleich es schon Spätherbst ist, hebt sie sich mit ihrem Purpurrot noch einsam und eitel von den anderen Pflanzen ab, die längst die Farbe verloren haben. Weißt du noch, wie wir sie gepflanzt haben? Du warst zehn Jahre alt und hattest gerade Der kleine Prinz gelesen. Du warst von der Geschichte begeistert. Am liebsten von allen Gestalten hattest du die Rose und den Fuchs; den Affenbrotbaum, die Schlange, den Piloten und all die beschränkten, eingebildeten Menschen, die auf ihren winzigen Planeten sitzend durchs All schwebten, mochtest du dagegen nicht. So sagtest du eines Morgens beim Frühstück: „Ich will eine Rose.“ Natürlich wolltest du außer der Rose auch einen Fuchs. Mit der Schlauheit der Kinder hattest du den einfachen Wunsch vor dem fast unerfüllbaren geäußert. Wie sollte ich dir den Fuchs abschlagen können, nachdem ich dir die Rose zugestanden hatte? Darüber haben wir lange gestritten und uns schließlich auf einen Hund geeinigt,

澄澈 发表于 2008-7-26 09:59

In der Nacht, bevor wir ihn holten, hast du kein Auge zugetan. Alle halbe Stunde hast du an meine Tür geklopft und gesagt: „Ich kann nicht schlafen.“ Morgens um sieben warst du schon mit dem Frühstück fertig, gewaschen und angezogen; im Mantel bist du im Sessel gesessen und hast auf mich gewartet. Um halb neun standen wir vor dem Eingang des Tierheims, es war noch zu. Zwischen den Gittern hindurchspähend, sagtest du: „Woran werde ich merken, welcher genau der Richtige für mich ist?“ Große Besorgnis lag in deiner Stimme. Ich beruhigte dich. „Mach dir keine Sorgen“, sagte ich, „denk daran, wie der kleine Prinz den Fuchs gezähmt hat.“
    Drei Tage lang gingen wir immer wieder hin. Es gab mehr als zweihundert Hunde dort drinnen, und du wolltest sie alle sehen. Buck haben wir am dritten Tag gefunden. Er befand sich in einer der Boxen auf der Rückseite, wo die kranken Hunde untergebracht wurden. Als wir ans Gitter traten, sprang er uns nicht mit allen anderen entgegen, sondern blieb auf seinem Platz sitzen und hob nicht einmal den Kopf. „Den“, hast du gerufen und auf ihn gezeigt. „Den da will ich!“ Erinnerst du dich noch an das entsetzte Gesicht der Wärterin? Sie konnte einfach nicht begreifen, wieso du ausgerechnet diesen häßlichen Köter mitnehmen wolltest. Als wir ins Büro gingen, um die Papiere zu unterschreiben, erzählte uns die Angestellte seine Geschichte: „Er war zu Beginn des Sommers aus einem fahrenden Auto geworfen worden. Beim Fall hatte er sich schwer verletzt, und seitdem hing eines der Hinterbeine wie leblos herab.
    Buck sitzt jetzt hier neben mir. Während ich schreibe, seufzt er ab und zu und stupst mich mit der Nasenspitze am Bein. Es rührt mich, wenn ich ihn ansehe. Es ist, als hätte ich einen Teil von dir hier neben mir, den Teil, den ich am meisten liebe, den, der dich vor so vielen Jahren unter den zweihundert Insassen im Tierheim den unglücklichsten und häßlichsten auswählen ließ.

澄澈 发表于 2008-7-26 10:00

Seit ich ziellos durch die Einsamkeit des Hauses wandere, sind die Jahre, in denen unser Zusammenleben von Unverständnis und schlechter Laune geprägt war, wie ausgelöscht. Die Erinnerungen, die mich in diesen Monaten umgeben, sind die Erinnerungen an dich als Kind, als verletzliches, ausgesetztes kleines Tierchen. An dieses Kind schreibe ich, nicht die gepanzerte überhebliche Person der letzten Zeit. Die Rose hat mich dazu angeregt. Heute morgen, als ich an ihr vorbeiging, hat sie mir zugeflüstert: „Setz dich hin und schreib ihr einen Brief.“ Ich weiß, daß wir bei deiner Abreise unter anderem vereinbart haben, wir würden uns nicht schreiben, und schweren Herzens halte ich mich daran. Diese Zeilen werden nie den Flug nach Amerike antreten, um zu dir zu kommen. Wenn ich bei deiner Rückkehr nicht mehr da sein sollte, werden sie hier auf dich warten. Warum ich das sage? Weil ich vor weniger als einem Monat zum ersten Mal in meinem Leben schwer krank gewesen bin. So weiß ich jetzt, daß es unter allen Möglichkeiten auch diese gibt: In sechs oder sieben Monaten könnte ich nicht mehr hier sein, um dir die Türe zu öffnen und dich zu umarmen.

澄澈 发表于 2008-7-26 10:00

Ich bin sicher, daß du deinen Aufenthalt in Amerika abgebrochen hättest, wenn ich dich von meiner Krankheit unterrichtet hätte, und hierher geeilt wärest. Und dann? Dann hätte ich womöglich noch drei oder vier Jahre zu leben, vielleicht im Rollstuhl, vielleicht halb schwachsinnig, und du würdest mich aus Pflichtgefühl pflegen. Du tätest es mit Hingabe, aber mit der Zeit würde die Hingabe sich in Wut verwandeln, in Groll. In Groll, weil die Jahre verstreichen würden und du deine Jugend vergeudet hättest; weil meine Liebe wie ein Bumerang gewirkt, dein Leben in eine Sackgasse gezwungen hätte. Das sagte die Stimme in mir, die dich nicht anrufen wollte. Kaum beschloß ich, daß sie recht hatte, meldete sich in meinem Geist eine Gegenstimme. Wie würde es dir ergehen, fragte ich mich, wenn dir beim Aufschließen der Tür nicht ich und Buck freudig entgegenkämen, sondern du das Haus leer, schon lange unbewohnt vorfändest? Gibt es etwas Schrecklicheres als eine Rückkehr, die nicht gelingt? Würde es dir etwa nicht wie eine Art Verrat vorkommen, wenn du dort drüben ein Telegramm mit der Nachricht meines Ablebens erhieltest? Wie eine Bosheit? Da du in den letzten Monaten sehr ruppig zu mir warst, würdest du denken, bestrafe ich dich, indem ich fortging, ohne dir Bescheid zu sagen. Das wäre kein Bumerang, sondern ein Abgrund, ich glaube, es ist fast unmöglich, so etwas zu überleben. Das, was du dem geliebten Menschen noch hättest sagen müssen, bleibt für immer in dir; er liegt dort unter der Erde, und du kannst ihm nicht mehr in die Augen schauen, ihn nicht mehr umarmen, nicht mehr sagen, was du ihm noch nicht gesagt hattest.

澄澈 发表于 2008-7-26 10:00

Die Tage vergingen und ich kam zu keiner Entscheidung. Dann, heute morgen, der Vorschlag der Rose. Schreib ihr einen Brief, ein kleines Tagebuch über dein jetziges Leben, das ihr bleibt. Und so sitze ich nun hier in der Küche, mit einem alten Heft von dir vor mir, und kaue auf dem Stift herum wie ein Kind, das Schwierigkeiten bei seinen Hausaufgaben hat. Ein Testament? Nicht eigentlich, eher etwas, das dich durch die Jahre begleiten soll, etwas, worin du immer lesen kannst, wenn du das Bedürfnis empfindest, mich bei dir zu haben. Fürchte dich nicht, ich will dir weder eine Predigt halten, noch dich traurig machen, sondern nur ein wenig plaudern, mit dem Gefühl der Nähe, die uns einmal verband und die in den letzten Jahren verlorengegangen ist. Da ich lange gelebt habe und von vielen Menschen zurückgelassen wurde, weiß ich unterdessen, daß die Toten einen nicht durch ihre Abwesenheit belasten, sondern durch das, was – zwischen ihnen und uns – nicht ausgesprochen wurde.

[ 本帖最后由 澄澈 于 2008-7-31 20:31 编辑 ]

澄澈 发表于 2008-7-26 10:01

Kindheit und Alter gleichen sich. In beiden Fällen ist man, aus unterschiedlichen Gründen, recht ungeschützt, man nimmt immer noch – oder nicht mehr – am aktiven Leben teil, und kann für alles uneingeschränkt offen und empfänglich sein. Während der Pubertät beginnt sich dann ein unsichtbarer Panzer um unseren Körper zu legen. Er bildet sich während der Pubertät und wird während des gesamten Erwachsenenlebens immer dicker. Mit seinem Wachstum verhält es sich ähnlich wie bei den Perlen, je größer und tiefer die Verletzung, um so stärker ist der Panzer, der sich darum entwickelt. Im Lauf der Zeit jedoch nutzt er sich dann an den am stärksten strapazierten Stellen allmählich ab wie ein Kleid, das man zu lange getragen hat, wird fadenscheinig, bekommt bei einer schroffen Bewegung unvermutet einen Riß. Anfangs bemerkst du es gar nicht, du bist überzeugt, daß der Panzer dich noch völlig umgibt, bis du eines Tages auf einmal wegen irgendeiner Dummheit in Tränen ausbrichst wie ein Kind, ohne zu wissen, warum.

澄澈 发表于 2008-7-26 10:01

Wenn ich sage, daß sich zwischen dir und mir naturgemäß eine Kluft aufgetan hat, meine ich genau das. Zu der Zeit, als dein Panzer sich zu bilden anfing, war meiner schon in Fetzen. Du konntest meine Tränen nicht ertragen, und ich konnte deine plötzliche Härte nicht ertragen. Obgleich ich darauf vorbereitet war, daß sich mit der Pubertät dein Charakter verändern würde, fiel es mir doch sehr schwer, die Veränderung zu ertragen, als sie eingetreten war. Plötzlich hatte ich eine neue Person vor mir, und ich wußte nicht mehr, wie ich diese Person nehmen sollte.

[ 本帖最后由 澄澈 于 2008-7-31 21:31 编辑 ]

澄澈 发表于 2008-7-26 10:01

Der Tag deiner Abreise kommt mir in den Sinn, wie nervös wir beide waren! Du wolltest nicht, daß ich dich zum Flughafen begleite, und immer, wenn ich dich an etwas erinnerte, was du nicht vergessen solltest, gabst du mir zur Antwort: „Ich gehe nach Amerika und nicht in die Wüste!“ Und an der Tür, als ich dir mit grauenhaft schriller Stimme nachrief: „Gib auf dich acht!“, hast du, ohne dich auch nur umzudrehen, zum Abschied zu mir gesagt: „Gib du auf Buck und die Rose acht.“
    Im ersten Moment war ich etwas enttäuscht von diesem Abschied, weißt du. Als sentimentale alte Frau erwartete ich mir etwas anderes, Banaleres, etwa einen Kuß oder einen liebevollen Satz. Erst am Abend, als ich, da ich nicht einschlafen konnte, im Morgenrock durch das leere Haus geisterte, wurde mir klar, daß auf Buck und die Rose aufzupassen bedeutete, für den Teil von dir zu sorgen, der weiterhin bei mir lebt, der glückliche Teil von dir. Und mir wurde auch klar, daß sich in der Schroffheit jenes Befehls nicht Empfindungslosigkeit ausdrückte, sondern die äußerste Anspannung einer Person, die sonst gleich zu weinen anfängt.

胖脸 发表于 2008-7-26 10:46

哦耶~:cool:
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